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Resolution der Aktionskonferenz Care Revolution

    Wir dokumentieren:

    Vor der Care Revolution kommt die Care Resolution

    Vom 14. bis 16. MĂ€rz 2014 trafen wir uns, ca. 500 Menschen, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen, Haushalts- und Sexarbeit – politisch aktiv sind, zu einer ersten Aktionskonferenz Care Revolution. Über 3 Tage hinweg tauschten wir persönliche und politische Erfahrungen – zunĂ€chst ĂŒberwiegend aus dem deutschsprachigen Raum – aus und diskutierten, wie grundlegende VerĂ€nderungen hin zu einer bedĂŒrfnisorientierten Care-Ökonomie angestoßen werden können.

    Von unterschiedlichen Standpunkten kamen wir zu der Überzeugung, dass dies nur durch eine starke Care-Bewegung gelingen kann. Auch deshalb gingen wir am Samstagnachmittag mit einer Aktion „Das Unsichtbare sichtbar machen: Care auf die Straße tragen“ in Berlin in die Öffentlichkeit. Zum Abschluss der Konferenz verstĂ€ndigten wir uns auf gemeinsame Thesen und Forderungen, auf deren Grundlage wir in einem Netzwerk Care Revolution auch in Zukunft weiterarbeiten werden.

    Von der Krise der sozialen Reproduktion


    1. Alltagserfahrungen in der Krise

    In der aktuellen Krise leben und arbeiten viele unter Druck: Zeitstress und Angst vor einer ungewissen Zukunft bestimmen den Alltag. Einige mĂŒssen immer mehr arbeiten, andere finden keine Jobs oder haben trotz Job nicht genug zum leben. Hinzu kommt die Sorge um sich und andere: Kinder, Alte, Kranke, Freund_innen, Angehörige. Erholung, Muße und die Möglichkeit, Gesellschaft mit zu gestalten, scheinen fĂŒr immer mehr Menschen unerreichbar.Die Sparmaßnahmen, die als einzige angebliche Lösung zur Krise des Kapitalismus prĂ€sentiert werden, untergraben die Errungenschaften queerfeministischer und anderer emanzipatorischer KĂ€mpfe.

    Viele sind von Armut, Gewalt oder struktureller und individueller Diskriminierung betroffen. FĂŒr Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus steht fast alles unter Vorbehalt. Herrschende Vorstellungen davon, wie Menschen zu sein haben, greifen weit ins Leben ein. Menschen, die dem nicht entsprechen, erfahren Unsicherheit und werden von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Ein Gutes Leben sieht definitiv anders aus!

    2. Der Markt verdrÀngt das Soziale: Dienstleistungen und Beziehungen unter Druck

    Öffentliche Dienstleistungen wie KiTa, Schule, medizinische Versorgung, Assistenz und Pflege aber auch Wohnen mĂŒssen immer mehr privat finanziert werden. In guter QualitĂ€t werden sie zu einem Privileg der Reichen. Zwei‐Klassen‐Medizin und ein privatisiertes Versicherungssystem entscheiden ĂŒber die Gesundheit der einzelnen – manchmal ĂŒber Leben und Tod. Ein verarmtes öffentliches Bildungssystem lĂ€sst teure Privatschulen wie Pilze aus dem Boden schießen. Mietexplosion und die Privatisierung öffentlichen Raums fĂŒhren dazu, dass Menschen aus ihren Wohngebieten und Lebensumfeld verdrĂ€ngt werden. Soziale AusschlĂŒsse werden dadurch verstĂ€rkt.

    Auch der menschliche Körper fĂ€llt unter den Optimierungszwang der kapitalistischen Ökonomie. Gesundheit wird zur individuellen Aufgabe gemacht und zur persönlichen Leistung erkoren. Menschen mit BeeintrĂ€chtigungen, die behindert werden, werden als nichtleistungsfĂ€hig abgewertet.

    Kapitalistische VerhĂ€ltnisse haben Einfluss auf Sorge und FĂŒrsorge: Zeitdruck und materielle Unsicherheit produzieren Gewalt und zerstören soziale Beziehungen und SorgeverhĂ€ltnisse.

    3. Sorgearbeit: die unsichtbare Seite der kapitalistischen Ökonomie

    FĂŒr die Sorge um uns und andere fehlen Zeit und WertschĂ€tzung. Wo Sorgearbeit als Erwerbsarbeit geleistet wird, steht sie unter Kostendruck, ist der kapitalistischen Profitlogik unterworfen. An allem wird gespart: Löhne werden gedrĂŒckt, Zeit und materielle Absicherungen knapp gehalten. (Nicht nur) unter solchen Bedingungen gibt es in Care‐Beziehungen AbhĂ€ngigkeiten, die zu körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt fĂŒhren können.

    Der grĂ¶ĂŸte Teil der Sorgearbeit wird weiterhin unbezahlt geleistet – bleibt gesellschaftlich unsichtbar. Wegen der mangelhaften öffentlichen Versorgung wird Sorgearbeit wieder in die Haushalte verschoben. Ihre zwischenmenschliche QualitĂ€t muss sich aber auch hier gegen zeitlichen und finanziellen Druck sowie Überforderung behaupten. Damit wird sie zur Doppelt‐ und Dreifachbelastung.

    Wer fĂŒr wen sorgt, wie gut jemand fĂŒr sich und andere sorgen kann, und wer wie viel Lohn und Anerkennung fĂŒr geleistete Sorgearbeit erhĂ€lt – all das ist entlang von HerrschaftsverhĂ€ltnissen organisiert: Beispielsweise wird auf Grund patriarchaler VerhĂ€ltnisse bezahlte wie unbezahlte Sorgearbeit noch immer eher Frauen*(1) zugewiesen, geht ihnen angeblich quasi ‚natĂŒrlich’ von der Hand. Dadurch werden Fachkompetenzen abgewertet, das Geleistete als SelbstverstĂ€ndlichkeit missachtet.

    Niedrige Löhne in Sorgeberufen und ein elitĂ€res Bildungssystem fĂŒhren dazu, dass sich in der Care‐Arbeit außerdem soziale Ungleichheiten verfestigen. Ähnliches gilt – gestĂŒtzt auf globale Lohnunterschiede – auch fĂŒr eine rassistische Arbeitsteilung: migrantische Carearbeiter_innen können im globalen Norden zu Billiglöhnen ohne soziale Absicherung angeworben werden. Asyl‐, Arbeitsrecht und Diskriminierungen bestimmen den Zugang.

    
 zur Care Revolution!

    4. Her mit dem guten Leben

    Ein gutes Leben steht im Widerspruch zur Konkurrenz und Profitlogik des Kapitalismus. Diese Unterordnung wollen wir nicht lĂ€nger hinnehmen. In der Care Revolution stehen die Menschen und ihre LebensverhĂ€ltnisse im Zentrum. Gemeinsam können wir Bedingungen schaffen, unter denen unterschiedliche, individuelle, kollektive und gesellschaftliche BedĂŒrfnisse und Interessen verwirklicht werden können: Ein gutes Leben fĂŒr alle – weltweit!

    5. Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der FĂŒrsorglichkeit absichern

    Sorgearbeit ist eine Bedingung menschlicher Existenz und Voraussetzung fĂŒr die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Ihre Ökonomisierung muss gestoppt werden. Statt Sorgearbeit ins Unsichtbar‐Private zu drĂ€ngen und denen aufzuhalsen, die am stĂ€rksten isoliert und am wenigsten in der Lage sind, sich zu wehren, gilt es sie zu einem zentralen Gegenstand politischer Aushandlung zu machen. Care ist ein Grundrecht und liegt in gesellschaftlicher Verantwortung.

    Diskriminierungen und Gewalt, die mit Sorgearbeit verbunden sind, gilt es abzubauen: Care ist nicht Frauen*‐Sache, der gesellschaftliche Bedarf muss von allen Menschen getragen werden. Unsere Care‐Krise darf nicht auf Kosten des globalen SĂŒdens gelöst werden.

    Sofern Sorgearbeit als Erwerbsarbeit geleistet wird, muss sie von gut bezahlten und gut ausgebildeten FachkrĂ€ften verrichtet werden, die ĂŒber ausreichende materielle und Zeitressourcen verfĂŒgen. Dies ist im Interesse der Care‐Arbeiter_innen und der Sorge‐ EmpfĂ€nger_innen. Dennoch können InteressenwidersprĂŒche entstehen, die demokratisch ausgehandelt und bearbeitet werden mĂŒssen.

    Menschen, die Assistenz, Pflege oder Betreuung benötigen, mĂŒssen ĂŒber deren Charakter sowie ĂŒber institutionelle Formen selbst entscheiden können. Die Achtung der Selbstbestimmungsrechte von Kranken, Pflegeerhaltenden, Assistenznehmenden sowie von Kindern und Jugendlichen ist oberstes Gebot jeder Sorgearbeit.

    Wer Sorgearbeit individuell oder zusammen mit anderen leisten will, muss durch entsprechende Arbeitszeitmodelle und gesellschaftliche Regelungen dafĂŒr materiell und zeitlich abgesichert werden. Dazu gehört es auch, flexibel und selbstbestimmt zwischen verschiedenen TĂ€tigkeiten (Erwerbs‐, Sorgearbeit, politische Arbeit, Muße und Bildung) abwechseln zu können.

    6. Zeit gewinnen

    Die Zeit, die gebraucht wird, um die notwendigen GĂŒter und Lebensmittel herzustellen, ist in den letzten 50 Jahren etwa um die HĂ€lfte weniger geworden. Aber nicht ArbeitszeitverkĂŒrzung und Umverteilung der Erwerbsarbeit sind die Folge, sondern das neoliberale Regime setzt auf Spaltung: WĂ€hrend die einen immer lĂ€nger arbeiten, werden die anderen in Erwerbslosigkeit oder PrekaritĂ€t entlassen. FĂŒr die Care‐Revolution ist eine radikale VerkĂŒrzung der Erwerbsarbeit unverzichtbar. Nur so ist fĂŒr alle die Zeit zu gewinnen, die fĂŒr sorgende und pflegende Arbeit genauso gebraucht wird wie fĂŒr die Sorge um sich selbst und um das Gemeinwesen.

    7. Wohnen ist Menschrecht

    GĂŒnstiger und wĂŒrdevoller Wohn‐ und Lebensraum muss allen Menschen zur VerfĂŒgung stehen. Dazu gehört die Abschaffung einer Lagerunterbringung von FlĂŒchtlingen sowie eine Abschaffung der Residenzpflicht. Mit Wohnraum soll kein Profit gemacht werden. Die Gestaltung der StĂ€dte und Gemeinden muss mit ihren Bewohner_innen erfolgen.

    Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, Freizeiteinrichtungen, Sportanlagen und Platz fĂŒr Kinder und Jugendliche sowie Barrierefreiheit dĂŒrfen keine Frage des Geldes sein. Auch im lĂ€ndlichen Raum muss eine öffentliche Infrastruktur geschaffen werden, die diesen Namen verdient. Neben hochwertiger Gesundheitsversorgung, Bildung und Kinderbetreuung betrifft dies vor allem ein dichtes Netz gebĂŒhrenfreien öffentlichen Nahverkehrs.

    8. Bildung ist ein Recht fĂŒr alle Menschen – Bildung demokratisieren

    Lernen muss ein Moment der Herausbildung einer gerechten Gesellschaft sein, dazu gehört die herrschaftssensible Ausbildung von PĂ€dagog_innen. Bildung muss fĂŒr alle kostenfrei zur VerfĂŒgung stehen und darf keiner Ökonomisierung unterliegen. Außerschulische und autonome Bildungsprozesse mĂŒssen anerkannt und gestĂ€rkt werden.

    9. Das gemeinsame Öffentliche stĂ€rken

    Wir fordern einen Ausbau des gemeinsamen Öffentlichen. Qualitativ hochwertige soziale Infrastrukturen sind Bedingungen fĂŒr ein angstfreies Leben und gesellschaftliche Teilhabe. Und soziale Dienstleistungen mĂŒssen allen ohne EinschrĂ€nkung zur VerfĂŒgung stehen. Wir fordern ein Recht auf Rechte fĂŒr alle.

    Das bedeutet – dort wo es ihn gab – kein ZurĂŒck zum alten Wohlfahrtstaat, der nicht nur oft paternalistisch und repressiv war, sondern auch patriarchal und rassistisch. Das gemeinsame Öffentliche umfasst gesellschaftliche Umverteilung genauso wie vielfĂ€ltige Formen der Selbstorganisierung von Menschen an unterschiedlichen Orten. Beides gehört zusammen!

    Hier gilt es neue Modelle sozialer Infrastrukturen zu entwickeln, in denen der gesellschaftliche Reichtum in demokratischen Verfahren so eingesetzt werden kann, dass die Interessen und BedĂŒrfnisse unterschiedlicher Gruppen und Individuen berĂŒcksichtigt sind. Wir brauchen eine Vielfalt unterschiedlicher Sorge‐Arrangements und sozialer Dienste.

    10. Los geht’s

    Um fĂŒr alle diese Forderungen zu streiten, haben wir uns aus unterschiedlichen Erfahrungen, beruflichen HintergrĂŒnden und politischen Spektren zusammengefunden. Eine Care‐Bewegung muss Anliegen verknĂŒpfen und KrĂ€fte bĂŒndeln. FĂŒr die Care Revolution!

    (1) Der * soll markieren, dass die Kategorie ‚Frau’ keine biologische, sondern eine sozial hergestellte ist, hinter der sich unterschiedliche LebensrealitĂ€ten und Erfahrungen verbergen. Die Verwendung dieser sprachlichen Markierung in der Resolution war umstritten.

    Kontakt: care-revolution@riseup.net